Henrik Albrecht: Musik & Emotionen

 

Ein Blick in die Werkstatt eines Komponisten

 

VortragIn diesem Beitrag geht es um das Verhältnis von Musik und Emotionen. Meine Erläuterungen im Text werden durch Musikbeispiele ergänzt, die Sie durch Anklicken der Musikbeispieltextfelder abspielen können. Den ausgewählten Musikstücken ist gemeinsam, dass ich sie allesamt für Hörspiele komponiert habe. Sie sind also auf einen dramaturgischen Zweck hin konzipiert und gehören zur Sparte der „funktionalen Musik“.

Wie im Film kommt auch im Hörspiel der Musik die Aufgabe zu, die Emotionen des Zuhörers anzusprechen. Dies geschieht zumeist auf einer nicht bewussten Ebene. Oft können die Zuhörer gar nicht mehr genau sagen, ob einer bestimmten Szene Musik unterlegt war oder nicht und warum sie zum Beispiel der Tod einer Figur so sehr berührt hat. Musik spricht hier unmittelbar ohne Umwege unsere Emotionen an.

Bei der nun folgenden kleinen „Werkstattbesichtigung“ werde ich den Versuch unternehmen, die Wirkungsweise von funktionaler Musik zu erklären und sie aus ihrem unterschwelligen Dasein ein wenig an die Oberfläche der Wahrnehmung heben. Da die folgenden Betrachtungen auch für den musikalischen Laien verständlich sein sollen, stelle ich diesen Erörterungen drei Abschnitte voran, die grundlegende musikalische Kompositionsmittel erklären.

Die Parameter der Musik

Um im Bild der Werkstatt zu bleiben, zeige ich zunächst einmal die musikalischen Werkzeuge auf, die mir als Komponist zur Verfügung stehen. Es sind die Grundelemente aus denen Musik besteht. Sie bilden in gewisser Weise die Dimensionen, in denen sich Töne bewegen können. Diese Parameter sind folgende:

* Tempo

* Rhythmik

* Melodik

* Harmonik

* Dynamik

* Instrumentation / Klangfarbe

Das Tempo und die Rhythmik

Beide können sehr mächtige und „ohrenfällige“ Werkzeug sein. Der erste und oft am leichtesten zu erinnernde Eindruck eines Musikstückes ist zumeist das Tempo. War es ein schnelles oder ein langsames Stück? Schon allein die Tempoangaben der Musik wie Scherzo oder Adagio wecken eine emotionale Erwartungshaltung im Zuhörer.

Eng verknüpft mit dem Tempo ist die Rhythmik. Sie steuert sehr stark die emotionale Wahrnehmung des Tempos. Ein gleichmäßiger und ruhiger Puls der Musik dürfte einen Ebensolchen auch im Zuhörer erzeugen. Dagegen kann eine unruhige und zerrissene Rhythmik verknüpft mit einem schnellen Tempo kaum als Hintergrundmusik für einen gemütlichen Abend am Kamin dienen. Mit Hilfe der Rhythmik lässt sich das subjektive Zeitempfinden des Hörers steuern. Folgt auf eine sehr schnelle Passage eine fast bewegungslose Musik, so scheint der Zeitfluss nahezu stillzustehen. In Filmen wird dieser Effekt oft bei Actionsequenzen verwendet. Dabei wird eine Zeitlupenszene inmitten des Tumults eingebaut, wodurch die Schnelligkeit der vorhergehenden Szene noch stärker empfunden wird.

Der Zeitraum, den ein Musikstück überbrückt, erhält Form und Kontur durch Verwendung verschiedener Tempi und Rhythmen. Musik gliedert so die Zeit.

Die Melodik und Harmonik

Sie sind die sensibelsten Werkzeuge in der Werkstatt des Komponisten. Die Wirkung der Melodik kann auf der einen Seite plakativ und signalartig sein. Hornmotive und Seufzerbewegungen zählen hier zu den gröberen Mitteln. Auf der anderen Seite kann sie sehr versteckt agieren und feine emotionale Regungen wecken. In Ihrer Wirkungsweise ist die Melodik untrennbar mit der Harmonik verbunden. Bewegt sich die Melodie stark jenseits der ihr unterlegten Harmonie, so wird dies als spannungsreich empfunden. Geht sie hingegen in den Harmonien auf, so vermittelt sie ein Gefühl der Geborgenheit.

Die Harmonik bezieht sich in ihrer Wirkung stark auf ein Wahrnehmungsmuster in unserem Gehör, dem Empfinden des Obertonspektrums. Entfernen sich die Harmonien von dem Obertonspektrum des Grundtons, so steigt die Spannung. Diese Beziehung werde ich noch näher erklären, wenn wir uns die Materialien anschauen, die in der Werkstatt, mit den soeben beschriebenen Werkzeugen, bearbeitet werden. Genau diese Materialien sind nämlich die Wahrnehmungsmuster, die im Zuhörer wirksam sind.

Dynamik, Instrumentation und Klangfarbe

Diese Werkzeuge dienen der Unterstützung und Verstärkung der komponierten musikalischen Strukturen. Sie sind die Farben auf der Palette des Komponisten. Die Konturen einer Melodie können durch die Instrumentation stark verwischt werden. Ebenso kann man sie aber auch durch Verdoppelung einer Melodielinie mit verschiedenen Instrumenten, wie zum Beispiel Harfe und Flöte besonders hervorheben. Die  Klangfarbe der Instrumente ändert sich je nach der Lautstärke, in der sie gespielt werden. Das dynamische Spektrum der Musik wird von den Möglichkeiten der verwendeten Instrumente festgelegt. Eine Trompete nimmt- sehr laut gespielt- natürlich einen anderen Klangcharakter an, als wenn sie in einer pianissimo Passage mit Dämpfer erklingt. In den Beispielen werden uns diese instrumentationstechnischen Phänomene noch einige Male begegnen.

Nachdem wir die Werkzeuge der Komponistenwerkstatt betrachtet haben, stellt sich nun die Frage welche Materialien mit ihnen bearbeitet werden. Wie kann man mit diesen Mitteln den Zuhörer emotional steuern? Wie ist es möglich, die menschliche Wahrnehmung an ganz bestimmten Punkten zu beeinflussen?


Grundlegende menschliche Erfahrungen, auf die sich Musik beziehen kann:

Wir kommen zu den Ansatzpunkten, an denen die zuvor beschriebenen Werkzeuge wirken. Diese sind die grundlegenden Erfahrungen, die jeder Mensch macht. Komponiert man Musik im Hinblick auf diese Bezugspunkte, so wird man letztendlich eine Musik erhalten, die jeder Mensch auf diesem Erdball versteht. Diese Allgemeingültigkeit ist wichtig, damit die Musik unmissverständlich ist. Denn wie bereits vorher gesagt, ist das Ziel in der Kompositionswerkstatt, eine Musik zu komponieren, welche die Emotionen des Zuhörers genau steuert und verstärkt. Im folgenden habe ich den Versuch unternommen, die Punkte, an denen die Musik ansetzen kann, aufzulisten:

Körpererfahrungen

·              Herzschlag

·              Atem

·              Stimme / Sprache

·              Bewegung / Tanz

·              Räumliche / materielle Erfahrungen (Hoch, Tief, Schwer, Leicht, Hart, Weich)

Naturerfahrungen

·              Donnergrollen

·              Rauschen des Windes

·              Regen

·              Tierlaute (Vogelstimmen / Wolfsgeheul etc.)

Unmittelbares Erleben von Proportion („Musik ist das unbewusste Zählen der Seele“)

·              Obertonreihe

·              Metrik

·              Form

Diese Erfahrungen sind, unabhängig von dem Ort, auf dem man sich auf der Erde befindet, wohl in jeder menschlichen Kultur anzutreffen. Es sind also Kultur übergreifende archetypische Erfahrungen. Würde man auf diesen Grundlagen basierend Musik komponieren, so würde sie wohl überall von den Menschen (emotional) verstanden werden.

Diesen Effekt macht sich beispielsweise die Musik aus der Esoterik-Szene zu nutze. Hierbei steht meist der beruhigende Aspekt der Klänge im Vordergrund, was dieser Musik eine sehr eingeschränkte Funktion zuweist. Sie dient ausschließlich der Entspannung und Unterstützung der Meditation. Das eigentliche Salz in der Suppe bildet beim Komponieren, funktionaler Musik, jedoch der Bezug zu den angenommenen soziologischen Hintergründen des Zuhörers, womit wir bei dem nächsten Punkt wären.

Musikalische Klischees und Idiome

Das Klischee, welches im künstlerischen Sinne allgemein negativ besetzt ist, stellt in der Komposition funktionaler Musik  einen reichen Schatz dar. Mit Hilfe von Klischees wird es erst möglich, einen kulturellen Dialog mit dem Zuhörer aufzunehmen. Es versetzt den Komponisten überhaupt erst in die Lage, differenzierter auf der Klaviatur der Emotionen zu spielen. Jedoch müssen diese Klischees erst im jeweiligen kulturellen Umfeld erlernt werden. Daher richtet sich diese kleine „Werkstattbesichtigung“ an diejenigen Hörer, die mit den  Hörgewohnheiten der abendländische Musik vertraut sind (ob bewusst oder unbewusst, ist in diesem Falle völlig bedeutungslos). Diese Klischees sind, im Gegensatz zu den oben beschriebenen menschlichen Grunderfahrungen, die als absolut gelten dürften, mitunter sehr ambivalent in Ihrer Wirkungsweise, und können je nach Hörerkreis auch völlig gegenteilige Wirkungen haben.

Man denke hierbei an Clockwork Orange von Anthony Burgess. Hier wird im Verlauf des Buches, bei der Hauptfigur das Hören der 9. Symphonie von Beethoven mit negativen Inhalten besetzt. Fortan ist es dem Helden nicht mehr möglich, die positiven Gefühle, die er vorher mit dem Werk verbunden hat, wieder wachzurufen.

Von daher ist also bei der Verwendung von Klischees Vorsicht geboten. Die Menschen reagieren unterschiedlich auf diese musikalischen Symbole. Sie sind nicht allgemeingültig, versetzten aber den Komponisten in die Lage, den Zuhörer sehr viel differenzierter zu lenken. Hierbei blickt man als Komponist auf eine große Tradition zurück. Schon Platon empfiehlt den Gebrauch bestimmter Skalen, um bei der Erziehung der Jugend verschiedene Charaktereigenschaften zu verstärken. Später in der Barockmusik findet sich die Affektenlehre. In ihr wird der Versuch unternommen, bestimmte Intervalle mit dezidierten emotionalen Inhalten zu verknüpfen. Diese Gedanken haben seit jeher die abendländische Musik beeinflusst, sodass ähnliche Kompositionsmittel auch heute noch verwendbar sind. Man denke nur an die kleine Sexte, die durch ihre exemplarische Verwendung in vielen Stücken der abendländischen Musik als ein sehr emotionales Intervall gilt. Sie wird in einem tonalen Rahmen wohl immer noch als ein fast archetypischer Tonschritt, der Trauer empfunden. Natürlich kann man als Komponist mit den weiter oben beschriebenen Werkzeugen diese Wirkung noch weiter verstärken oder abschwächen, je nach Kontext, in dem sich die Musik bewegt. Nach dieser Grund legenden Darstellung meiner „Komponistenwerkstatt“ möchte ich nun anhand von Musikbeispielen das Vorangegangene illustrieren.

Musikbeispiele:

Naturdarstellungen

Analog zu den vorhergehenden Ausführungen werde ich die Musikbeispiele mit solchen beginnen, die versuchen an archetypischen Erfahrungen des Menschen anzuknüpfen. Deshalb stehen Musikstücke am Anfang, die allesamt Naturbeschreibungen sind.

In einem Hörspiel kommt der Musik häufig die Rolle zu, den Raum und die Umgebung der Handlung zu schildern. So sehe ich mich als Komponist oft mit der Aufgabe konfrontiert, solche Naturdarstellungen zu komponieren.

Das erste Musikbeispiel stammt aus dem Hörspiel „Der Messias vom Stamme Efraim“. Bei diesem Text handelt es sich um eine alte jüdische Legende, die besagt, dass das Leid unserer Welt von einem Messias alleine nicht geheilt werden kann. Es bedarf eines Vorkämpfers, dem so genannten Messias vom Stamme Efraim.  Der Mann, der für diese Rolle ausersehen ist, weiß noch nichts von seinem Schicksal, sondern streift als Müller mit seiner Kuh durch verregnete Welten Weißrusslands. Moische Kulbak, von dem die Romanvorlage zu diesem Hörspiel stammt, beschreibt ganz im Stile des Expressionismus die Natur quasi als einen Resonanzkörper, der die Handlungen der Personen widerspiegelt. Für mich als Komponisten galt es zunächst, diese Szenerie abzubilden, einen mythisch überhöhten Naturraum darzustellen (Hintergrund) und eine Figur zu zeichnen, die sich in diesem Raum bewegt und gleichzeitig durch die Musik charakterisiert wird (Vordergrund).

Beispiel 1Bentjes Dojna“ (Der Messias vom Stamme Efraim, WDR 1998)

Beispiel anhören

Ich habe für diese Musik eine sehr homogene Besetzung gewählt. Für den Hintergrund sind die Instrumente Kontrabass, Klarinette und Bandoneon zuständig. Sie spielen einen liegenden Klang, der sich nur geringfügig in einer Art Schlierenbildung chromatisch verändert. Alle drei Instrumente verschmelzen klanglich stark miteinander. Dies soll der Aktionsraum (Hintergrund) für die handelnde Figur (Müller bzw. Sologeige) sein. Diese Fläche ist ein leerer Klang. Er weist kein Tongeschlecht in unserem Sinne auf, symbolisiert lediglich die Weite der Landschaft.

Die Spielart der Sologeige, die den Vordergrund gestaltet, ist aus der jüdischen Volksmusik, der Klezmermusik entlehnt. Es gibt dort eine sehr ruhige, fast meditative Art der Improvisation.  Der Einzelspieler bewegt sich quasi frei über einem Orgelpunkt (immer gleich bleibenden Basston bzw. Klang), der ihm vom Begleitinstrumentarium bereitgestellt wird. Er lotet durch die Gestaltung der Soloinstrumentallinie das Obertonspektrum dieses Klanges aus, entfernt sich von diesem Spektrum, erzeugt somit Spannung, oder geht ganz in ihm auf.

Einen ähnlichen Vorgang erwähnte ich bereits weiter oben im Rahmen der Melodiebildung. Es kommt jedoch noch hinzu, dass auch die Orgelpunktinstrumente auf den Solisten reagieren und so zusätzliche Impulse für sein Spiel liefern (die Landschaft als Resonanzkörper). Wenn es dann im Text heißt, dass ein Stern vom Himmel fällt (signalartiges Motiv der Mandoline) und somit das Schicksal der in der Landschaft umherirrenden Figur vorausbestimmt ist, taucht auch das Leitmotiv von Reb Bentje in der Violine auf.

Im Kontrast zu diesem  Musikbeispiel steht das folgende Stück. Hier soll auch wieder eine Landschaft dargestellt werden. Jedoch geschieht dies nun durch ein völlig unhomogenes Instrumentarium. Die Instrumentalfarben verschmelzen nicht miteinander, sondern im Gegenteil: jedes Instrument erfüllt eine eigene individuelle Aufgabe. Darüber hinaus besteht bei dem Musikstück eine sehr klare Raumdisposition. Kein Instrument verdeckt ein anderes im gleichen Tonraum. Jedes hat ein eigenes Tonregister, in dem es sich bewegt. Wie im ersten Beispiel finden sich aber auch hier keine harmonischen Bewegungen. Die Komposition ist ebenfalls als Fläche angelegt.

Beispiel 2Hitze über dem Meer Siziliens“ (Die Form des Wassers, SWR 2000)

Beispiel anhören

Wie der Titel des Stückes schon andeutet, herrschen in solch einer Landschaft komplizierte Temperaturverhältnisse. Das Meer weist eine kühlere Temperatur auf als die von der Sonne erhitzte Luft. Zwischen beiden Schichten stelle ich mir eine irisierende, flirrende Luftschicht vor. Diese Disposition der natürlichen Elemente drückt sich auch in der Wahl der Instrumente aus. Im Gegensatz zum Beispiel 1 „Bentje´s Dojna“ habe ich hier Instrumente mit klar definierter Tonhöhe, wie Klavier und Harfe gewählt.

Notenbeispiel a: Hitze über dem Meer Siziliens (Die Form des Wassers Andrea Camillieri)

Klavier und Harfe haben beide ein starkes Anschlagsgeräusch, einen klar definierten Tonbeginn.  Hinzu kommt noch ein gezupfter Kontrabass, der ähnliche Eigenschaften hat. Schon diese drei Instrumente implizieren eine eher rhythmische Vorgehensweise. Es findet sich ein klarer Puls, konträr zum vorhergehenden Beispiel, welches kaum rhythmische Konturen aufwies. Die flirrende Hitze ist ohne Zweifel eine Bewegungsform, jedoch eine solche, die auf der Stelle tritt. Daher habe ich eine Taktart gewählt, die nicht so deutlich wie ein 4/4 oder 3/4 Takt die rhythmischen Schwerpunkte herausstellt: den 7/4 Takt. Obendrein bewegt sich das für Schwerpunkte wichtigste Instrument, der Kontrabass, gegen die betonten Taktzeiten. Die Orientierung des Zuhörers wird ausgehebelt.

Die ostinate, sich wiederholende Figur des Klaviers und die fallende Bewegung des Basses geben keinen Anhaltspunkt für einen rhythmischen Schwerpunkt. Wenn sich diese Fläche in ihrer spieluhrartigen, kalten, rhythmischen Präzision in der mittleren Tonlage etabliert hat, tritt die Harfe in einem hohen Register hinzu. Dies soll den Gegensatz von Kühle (Klavier und Bass) und flirrender Hitze (Harfe) darstellen. Um der Hitze noch etwas Brütendes beizumischen, spielt das Bandoneon einen hohen Liegeton, der mit der schnellen Figur der Harfe zu einem Hintergrund verschmilzt. Hinzu treten zwei Blechblasinstrumente, Trompete und Posaune, die mit ihrer gestopften Spielweise für eine schwüle, heiße Enge sorgen.

Beispiel 3Forrestiers Tod“ (Bel Ami, WDR 2000)

Beispiel anhören

Dieses Stück ist eine Naturdarstellung aus dem Hörspiel „Bel Ami“ nach dem gleichnamigen Roman von Guy de Maupassant. Forrestier, ein Freund Bel Amis, stirbt vor einem offenen Fenster mit Blick auf Cannes an einer Lungenkrankheit. Die laue Abendluft weht herein. Alles atmet den unwirklichen Stillstand der Dämmerung. In diesem Augenblick, im Angesicht des nahenden Todes des Freundes, keimt ein Hauch von Wahrhaftigkeit in Bel Ami auf, doch wenig später klettert er schon weiter die Karriereleiter hinauf, indem er der Witwe des Verstorbenen nachstellt.

Dieses kurze Innehalten der konstant nach gesellschaftlicher Annerkennung strebenden Figur, verlangte nach einem ruhigen, poetischen Stück. Das ewige Kreisen des Gesellschaftswalzers steht nun fast still. Nur ein sehr langsamer 3/4-Puls (die Taktart des Walzers) durchzieht in zeitlichen Intervallen, ähnlich wie langsame Atemzüge eines Lungenkranken, das Stück. Die Harfe spielt diese 3/4-Figur in einer kühlen Mittellage. Die Streicher öffnen mit ihren langen, im Tremolo gespielten Tönen einen passepartoutartigen Raum. Wie ein Naturlaut dringt eine sinkende Figur der Flöte, in tiefer, weicher Lage gespielt, ans Ohr. Diese weiche, seufzende Figur soll die Müdigkeit der ganzen Situation darstellen.

Im Verlauf des Stückes übernimmt die Celesta die Bewegung der Harfe und führt diese in einen irrealen Raum (die Celesta ist seit jeher das Instrument einer irrealen Klangwelt, man denke an Tschaikowskis Nussknacker). Der Freund stirbt. Gleichzeitig wird das Dahinscheiden der Figur mit „bodenständigem“ Schmerz verankert, indem an dieser Stelle das Cello zu einer Kantilene ansetzt.

Notenbeispiel b: Forrestiers Tod (Bel Ami, Guy de Maupassant)

Beispiel 4Die Schlacht“ (Die Säulen der Erde, WDR 1999)

Beispiel anhören

greift ins volle Menschenleben. Wir kommen nun in den Bereich der Unterhaltung. Für die Mittelalter-Saga „Die Säulen der Erde“ von Ken Follett hatte ich das Vergnügen, mit dem Rundfunkorchester des WDR diese Schlachtenmusik aufzunehmen. Das Aufziehen der Schlacht erscheint hier wie das Herannahen eines dunklen Gewitters. Die in den vorangehenden Teilen dargestellten archetypischen Erfahrungen des Menschen habe ich mir auch hier zu Nutze gemacht. Die große Tommel schwillt wie ein Donnergrollen in die vermeintliche Stille hinein. Auch die Geigen lassen mit ihrem kalten Triller Schlimmes ahnen. Die Hörner machen mit einem gedämpften Signal den militärischen Charakter der Situation klar.

Was nun folgt ist ein sehr simples, aber daher auch effektives kompositorisches Mittel: Mit steigender Tonhöhe empfindet auch der Hörer ein Ansteigen der Spannung. Es folgen weitere aufsteigende Linien. Die Phasen, der Achtelfiguren in den Streichern, verkürzen sich, bis schließlich die Spannung mit dem Hervorbrechen eines Kampfsignals in den Blechbläsern kulminiert. Danach etabliert sich ein regelmäßiger Puls, der jedoch mit unregelmäßigen Akzenten durchsetzt ist und daher auch eine gewisse Unruhe verbreitet. Doch jetzt ist die Schlacht im Gange. Das Gefühl einer Erlösung nach der schwülen Gewitterstimmung des Anfangs lässt sich daher nicht leugnen. Die Spannungskurve im Zuhörer folgt nun ganz analog der Tonhöhe des Stückes. Durch Taktwechsel wird der Puls immer wieder „hochgekocht“, bis sich die Schlacht als verloren erweist. Das gesamte Instrumentarium verschwindet in der Tiefe. Der vorhergehende, nervöse Puls weht nur noch langsam, gleichsam als Aschefetzen durch die Streicher. Ein diffus rauschender Tamtam-Schlag beendet das Stück im Ungewissen.

Musik als Raum

Neben Naturlandschaften kann die Musik auch Raum darstellen. So finden sich die Hauptpersonen von „Die Säulen der Erde“ plötzlich im Kerker wieder.

Beispiel 5Der Kerker“ (Die Säulen der Erde, WDR 1999)

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Ein Seufzermotiv führt den Zuhörer in die Tiefen des Kerkers hinab, in denen eine Bassklarinette dunkel rumort. Ist man erst einmal in diesen Tiefen, fällt es schwer, eine Steigerung zu formulieren.  So kam ich auf die Idee, an dieser Stelle ein genau gegenteiliges Gefühl zu vermitteln. Ich wollte die Hoffnung auf Freiheit aufkeimen lassen. Dies gelingt mir in diesem Beispiel mit Hilfe der Hörner. Sie stehen im Vokabular der Instrumentation gemeinhin für Freiheit, weite Landschaften und Natur. Wenn nun die Hörner in den Tiefen des Kerkers erklingen, und sich mit ihrem Klang die Weiten der Freiheit in Erinnerung rufen, so wirkt die Enge der dicken Kerkermauern noch stärker.

Beispiel 6Die Reliquien“ (Baudolino, SWR 2002)

Beispiel anhören

Der Raum, der hier dargestellt werden soll, ist gar nicht vorhanden. Es ist die Kirche als ein gedankliches Konstrukt, eine Alles umfassende Institution. Für die Hörspielfassung des Romans „Baudolino“ von Umberto Eco verwandelte ich das SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern klanglich in eine Art riesige schwingende Glocke. Baudolino entdeckt in dieser Szene geheimnisvolle Reliquien, die gleichzeitig ein Symbol für die Macht der Kirche darstellen. Eine mystische Aura wird von den Violoncelli des Orchesters zu Anfang des Stückes erzeugt. Sie führen eine Glissandobewegung aus, welche die hellen Klangschlieren des Anfangs erzeugt. Die Instrumentenzahl nimmt zu, bis alle Instrumente wie in einem riesigen imaginären Schwingungsraum einer großen Glocke spielen.

Beispiel 7Die Kathedrale“ (Die Säulen der Erde, WDR 1999)

Beispiel anhören

Der Raum im nächsten Beispiel entsteht erst noch. Es handelt sich hierbei um eine Kathedrale, die im Verlauf des gesamten Hörspiels „Die Säulen der Erde“ gebaut wird. Einer der Helden des Hörspiels, Baumeister Tom hat hier die Vision eines prachtvollen Domes. Er skizziert zunächst diesen gigantischen Bau mit wenigen Linien, bis sein Vorhaben in seiner Imaginationen immer größere Dimensionen annimmt.

Diesen Vorgang komponierte ich durch ein Anwachsen der Instrumentenzahl im Verlauf des Stückes. Die Musik fängt mit der noch abstrakten Skizze der Kathedrale an. Die Harfe spielt lediglich das Harmonieschema des Stückes. Um den sakralen Charakter des Raumes, der hier gebaut wird deutlich zu machen, hängt allerdings die Glocke schon sehr früh in ihrem Turm. Aus einer tiefen Lage erheben sich die Holzbläser in einer angedeuteten, der Renaissance entliehenen Polyphonie. Die Streicher treten hinzu. Die Orgel setzt mit einem Triller ein, der an eines der wohl bekanntesten Orgelstück, die d-moll Toccata von J.S. Bach erinnert. Zu guter Letzt stimmt auch noch die Gemeinde ihren Gesang in der fertigen Kathedrale an.

Darstellung von Bewegung mit Hilfe von Musik

Wie schon gesagt stehen dem Hörer beim Hörspiel keinerlei optische Reize zur Verfügung. So muss auch Bewegung durch Musik oder Geräusche dargestellt werden.

Beispiel 8Viegelchen“ (Viegelchen, WDR, 2000)

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Hier treffen zwei Elemente zusammen. Bewegung wird hörbar gemacht und gleichzeitig wird durch die Bewegung die Hauptfigur des Hörspiels charakterisiert. Es handelt sich bei diesem Text um eine Kindergeschichte. Das Vogelwesen „Viegelchen“, halb Vogel halb kleines Mädchen, wirbelt durch die Lüfte. Wie stellt man dieses Wesen dar? Als ein Instrument, das oft den Vogelruf nachahmt, erschien mir die Flöte geeignet, synonym für die Hauptfigur als klangliches Signal in der Musik zu erscheinen. Dann überlegte ich, welche sehr bekannten Flötenstücke Frische, Kindlichkeit und Beweglichkeit in der Musikgeschichte bisher dargestellt haben.

Als maßgebliche Stücke kam mir das Flötenmotiv von Papageno, eine optimistische, aufsteigende Flötenlinie in den Sinn. Gleichzeitig musste ich an den Beginn von Smetanas Moldau denken. Zwei Flöten imitieren den frisch entspringenden jungen Quell. Aus beiden Stücken erwuchs eine Art Symbiose. Der Lauf der Moldau wurde von mir begradigt und führte zu Papageno´s Motiv, welches nun jedoch nicht diatonisch (wie im Original), sondern ganztönig erscheint. Die frischen Flötentupfer aus der Moldau werden vom Ensemble noch zusätzlich verstärkt. Ein optimistischer, kindlicher Eindruck der Hauptfigur ist jetzt mit fast hundertprozentiger Sicherheit hervorgerufen, dank der Assoziation im musikalischen Unterbewusstsein des Zuhörers mit den beiden bekannten musikalischen Vorlagen. Wie kann man aber dieses Wesen durch die Lüfte wirbeln lassen? Die Darstellung dieser Bewegung gelang mir mit Hilfe einer Schnitttechnik. Als Taktart legte ich einen unregelmäßigen 5/8 Takt zugrunde. Komponiert habe ich jedoch ursprünglich einen 6/8 Takt, aus dem ich jeweils das 4. Achtel heraus geschnitten habe, um das Umherwirbeln der Figur in der Luft zu verdeutlichen. Nachdem dieser Rhythmus sich etabliert hat, habe ich als Steigerung die ursprüngliche Form des 6/8 Taktes mit dem 5 Achteltakt abgewechselt. (vergleiche Notenbeispiel c ab Takt 11)

Notenbeispiel c: Viegelchen (Viegelchen, Joke van Leuwen)

Beispiel 9Die Reise“ (Die Säulen der Erde, WDR 1999)

Beispiel anhören

Wieder ein Beispiel aus der Orchestermusik zu „Die Säulen der Erde“. In diesem Stück tritt eine Figur eine lange Reise durch alle gängigen Wallfahrtsorte der damaligen Zeit bis nach Santiago di Compostella an. Dramaturgisch diente diese Sequenz zur Auflockerung der Handlung. Die Charaktere mussten einmal aus dem üblichen Handlungsrahmen heraus genommen werden, um in der Ferne zu reifen. Für diese Bewegungsform schien mir ein Achtelpuls adäquat. Die Klarinette pendelt hier in einer ununterbrochenen Bewegung quasi über Stock und Stein. Die Bässe markieren gezupft ein paar Schwerpunkte, die den nach vorne gerichteten Charakter des Stückes verstärken. Über diesem Bewegungsmuster erklingt anfangs eine Oboe mit einem Zweitonmotiv. Was tut man, wenn man fröhlich seines Weges geht? Man pfeift munter vor sich hin. Dieses Idiom habe ich in der Oboe aufgegriffen.

Im Verlauf des Stückes treten immer mehr Instrumente hinzu. Die Welt, die bereist wird, weitet sich und wird bunter. Jedoch gibt es mehrere Wegkreuzungen zu passieren, an denen Entscheidungen über die Richtung des Weges getroffen werden müssen. An diesen Stellen zieht sich die Musik ganz auf die in Ratlosigkeit pendelnde Achtelfigur zurück. Der Satz dünnt aus und nur wenige Instrumente bleiben übrig. Wurde ein neuer Weg eingeschlagen, so verlässt die Achtelfigur wieder die zwei Pendeltöne und eine neue Instrumentengruppe erschließt eine neue Farbenwelt.

Die subjektive Kameraeinstellung

Der nächste dramaturgische Kunstgriff ist ursprünglich eine Technik aus dem Bereich des Films: Die subjektive Kameraeinstellung. Durch eine bestimmte Einstellung, die genau dem Blickwinkel der Figur entspricht, wird dem Zuschauer das Gefühl vermittelt, er befände sich direkt im Kopf der Hauptperson. Dies soll ein subjektives Mitfühlen verstärken. In der Musik ist eine ähnliche Perspektive mit der gleichen dramaturgischen Wirkung möglich. Wir kommen an diesem Punkt zu den anfangs besprochenen Körpererfahrungen eines jeden Menschen zurück. Greift man Geräusche des Atmens oder den Herzschlag in der Musik auf und lässt diese fast überlaut erscheinen, so stellt sich ein ähnlicher Effekt des Mitempfindens mit der gerade agierenden Person ein.

Beispiel 10Agnes´ Tod“ (Die Säulen der Erde, WDR 1999)

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verfolgt eine solche Strategie. Das verwendete Instrumentarium ist wieder ein klassisches Sinfonieorchester. Die Rolle des Herzschlags übernehmen hier die Pauke und die große Trommel. Gleichzeitig zitiert die Musik ein uraltes musikalisches Idiom: die Totentrommel. Nach der Starre der ersten Takte beginnt ein klagendes Englisch Horn mit dem Thema. Das Englisch Horn ist seit jeher, wohl durch seinen besondere Klang in der Altlage, als ein Instrument der Trauer verwendet worden. Der Satz gewinnt immer mehr an Farbe, bis sich schließlich das Thema in seiner Trauer nur noch in eine resigniert klagende Pendelbewegung zurückzieht.

Die gleiche Bewegung ist uns übrigens schon einmal im vorhergehenden Musikbeispiel „Die Reise“ begegnet. Dort jedoch unter völlig anderen, optimistischen Vorzeichen. Beide Stücke stammen aus dem selben Hörspiel, verwenden folglich das gleiche Material. Ein großer Reiz beim Komponieren besteht darin, das gleiche Material in immer wechselnden Farben und Gefühlszusammenhängen erscheinen zu lassen. In beiden Stücken entscheidet im wesentlichen das Tempo und die Artikulation der Instrumente über den Charakter des Motivs.


Beispiel 11Das Strafkoma“ (Das Wittgensteinprogramm, NDR 1998)

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stammt aus einem Thriller. In dem Hörspiel „Das Wittgensteinprogramm“ finden wir uns in die Zukunft, in das Jahr 2054 versetzt. Ein Serienmörder treibt in London sein Unwesen.  Diese Person ist neben der ermittelnden Kommissarin eine der Hauptfiguren des Hörspiels. Sorgfältig wird er in fast philosophischen Monologen, die über die „Ethik“ seines Mordens informieren, charakterisiert. Als er am Ende des Hörspiels gefasst wird, droht ihm als Bestrafung das Strafkoma. Eine bestimmte Anzahl von Lebensjahren wird von der Lebenszeit des Täters subtrahiert, indem er diese Zeit im Strafkoma verbringt.

Da es sich bei diesem Killer um einen hoch gebildeten Psychopathen handelt, wählte ich für die Instrumentation der Musik einen der kultiviertesten Klangkörper, die das Abendland hervorgebracht hat: das Streichquartett. Es sollte daher im Wesentlichen den Klang der Musik bestimmen. Obendrein wollte ich mit Hilfe der Musik auch die Zukunft als Handlungszeitraum charakterisieren. Ich beschloss daher, das Streichquartett mit synthetischen Sounds, wie Drumloops und Beats aus dem Sampler zu unterlegen.

Die Krönung dieses Cocktails stellte schließlich ein Countertenor  dar, der quasi als Stimme des Wahnsinns im Gehirn des Täters agierte. Durch die irreale Brechung in seiner Stimme (ein Counter singt, obwohl er ein Mann ist, in der Alt- bis Sopranlage der Frau) sollte der Countertenor die abgehobene, nicht mehr in der Realität verankerte Gedankenwelt des Killers darstellen. Gleichzeitig öffnete er mir die  Tür  zu der Klangwelt früher englischer Komponisten wie Purcell und Dowland, die oft Countertenöre einsetzten.

Im folgenden Musikbeispiel 11 sinkt der Verurteilte in das Strafkoma. Der Rhythmus dieses Musikstückes wird bestimmt durch das Geräusch der Beatmungsmaschine, das hier als Element in die Musik hinein komponiert wurde. Wir befinden uns nun gleichsam im Kopf des Killers. Der Counter dringt nur noch in Erinnerungsblasen an das Ohr.

Beispiel 12Der Spiegel im Treppenhaus“ (Bel Ami, WDR 2000)

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Es folgt ein weiteres Beispiel aus dem Hörspiel „Bel Ami“. In diesem Stück steigt der Held die Treppe zu einem Salon hinauf, in dem er sein gesellschaftliches Debut geben wird. Gerade hat er sich einen geliehenen Frack angezogen und fiebert dem Empfang im Salon entgegen. Sein Herz klopft. Auch hier greife ich den Puls als willkommenes Element in der Musik auf. Das Pochen ist in diesem Beispiel allerdings völlig anders gestaltet, als in Beispiel Nummer 7. Schlug das Herz dort noch in Pauke und großer Trommel, so ist hier der Herzschlag leichter, in quasi freudiger Erwartung charmanter Abenteuer. Daher habe ich ihn hier in einer Mixtur aus gezupftem Kontrabass und Celesta instrumentiert. Hierdurch erhält  er seinen seidigen Salonklang. Das Erklimmen der Treppe wird durch ein Ansteigen der Tonhöhe symbolisiert. Auf einem Treppenabsatz hält Bel Ami inne, um sich plötzlich im Spiegel zu erblicken. Ihm gefällt die Erscheinung, gleichzeitig erscheint ihm sein Spiegelbild fremd. Dann nimmt er seine Schritte wieder auf. Am Ende des Stückes laufen Außen- und Innenwelt zusammen. Das Motiv, das wir zuvor die ganze Zeit über hörten, entpuppt sich als eine Vorwegnahme der Türklingel des Salons, die Bel Ami jetzt betätigt. Gleichzeitig ist die Türklingel genau das, worauf das Motiv des Helden die ganze Zeit zielte. Die Musik verdeutlicht das ganze Trachten der Figur. Zwei verschiedene Elemente fallen in dieser Türklingel zusammen. Ist sie ein Geräusch oder ist sie noch Musik? Im Film könnte Ähnliches durch einen blitzschnellen Umschnitt von subjektiver Kamera auf eine Kamera, die den Helden von Außen betrachtet, geschehen.

Notenbeispiel d: Der Spiegel im Treppenhaus (Bel Ami, Guy de Maupassant)

Rhythmus und Metrik als charakterisierende musikalische Elemente

Rhythmus und Metrum bestimmen den Zeitfluss der Musik. Durch diese beiden Elemente bekommt der Zeitraum, den ein Musikstück dauert Kontur und Form. Das Kriminalhörspiel mit dem Titel „Die Form des Wassers“ nach Andrea Camillieri veranlasste mich dazu, in dem Titelthema zu dieser Serie ein Spiel mit diesen beiden Elementen anzufangen.

Beispiel 13Die Form des Wassers“ (Die Form des Wassers, SWR 2000)

Beispiel anhören

Der zentrale Satz dieses Krimis besagt, dass jedem Fall, den es zu lösen gilt, mehrere Wahrheiten zu Grunde liegen.  Die Wahrheit hat die Form des Wassers. Je nach Gefäß, in welchem es sich befindet, hat es eine andere Form. Einen ähnlichen Vorgang versuchte ich hier in der Musik zu komponieren. Das Stück beginnt mit einem sich ständig wiederholenden Klavierakkord. Man glaubt nach einigen Sekunden, die Schwerpunkte des Metrums zu kennen. Dieses Gefühl dauert jedoch nur so lange an bis der Bass einsetzt. Erst dann erkennt man, dass die Klavierakkorde nicht auf 1 und 3 des 4/4-Taktes lagen, sondern auf den schwächeren Taktzeiten 2 und 4. Das Metrum bekommt analog zu dem Kernsatz des Hörspiels durch den Bass eine andere Form. Dieses Vexierspiel erstreckt sich auch in die melodischen Elemente des Stückes. Auf ganz einfache Art und Weise werden kurze Melodieelemente verschiedenen Harmonien ausgesetzt. Die Melodie bleibt gleich, zum Beispiel der kurze Abwärtsschlenker der Trompete, unter sie schiebt sich jedoch eine andere Harmonie. Gleiches passiert in den Takten 13 und 15 mit dem eigentlichen Thema. Die Harmoniewechsel verleihen dem Thema eine jeweils andere Farbe. Durch einen Echoeffekt bekommt auch der Schlenker der Trompete am Anfang des Stückes eine andere Form. Er wird von einem punktuellen Element zur Bewegung im Raum.

Notenbeispiel e: Titelthema (Die Form des Wassers, Andrea Camillieri)

Beispiel 14Die Forsythe Saga“ (Die Forsythe Saga, BR 2002)

Beispiel anhören

Ein weiteres Stück, in dem der Rhythmus eine große Rolle spielt, ist das Titelthema zu der „Forsythe Saga“ nach dem Roman von John Galsworthy. Beim Lesen dieser großen Familiensaga hatte ich stets das Bild einer großen Standuhr vor Augen, die in dem Haus der Forsythes das Verstreichen der Zeit dieser großen Kaufmannsfamilie  anzeigte. Auch in dem Hauptthema wollte ich dieses Bild akustisch erscheinen lassen. Das Uhrenticken wird von Cello und Geige gezupft dargestellt. Die übrigen Instrumente weben sich erzählend um dieses Rhythmusostinato herum. Erst im späteren Verlauf wird das insistierende Uhrenticken verlassen. Das Stück öffnet sich mit einem Klangteppich der Streicher. Die Bewegung in der Begleitung nimmt zu und wir werden gewahr, dass hinter dem Ticken dieser sachlichen Kaufmannsfamilienuhr ein Kampf der Gefühle stattfinden wird. Eine große Familiensaga nimmt nach diesem Titelthema ihren Lauf. Die Tonhöhen steigen. Vorhang auf.


Beispiel 15Liebesthema“ (Die schwarze Trilogie, SWR 2002)

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Leo Malet hat mit seiner „Schwarzen Trilogie“ eine beklemmende, trostlose Romanvorlage erschaffen. In den drei Krimis, die diese Trilogie umfasst, dreht sich die Handlung durchweg um Versager, die auf schrecklichste Art und Weise scheitern. In solch einem Umfeld trotzdem noch musikalisch eine Liebesgeschichte zu erzählen, die Hoffnung aufschimmern lässt, fällt schwer. Durch die Verwendung von ausgefallenen Instrumenten verließ ich erst einmal das Terrain des Konzertraumes und ausgefeilten Wohlklanges. In das Klavier wurden ein paar Metallteile und Stangen gelegt, wodurch es den Klang eines leicht verstimmten Kinderklaviers bekam.

Statt einer Violine verwendete ich eine rumänische Trompetengeige, die klanglich stark an ein altes Grammophon erinnert (und im übrigen auch so funktioniert, statt auf einen hölzernen Resonanzkörper wird der Ton auf eine schwingende Membran übertragen und gelangt von dort durch einen langen Trichter an das Ohr des Zuhörers). Über dem Ganzen schwebt der Klang einer singenden Säge. Diese ist ein Instrument, das einen gewissen nostalgischen Klang hervorruft und eher als Attraktion vom Jahrmarkt her bekannt ist.

Alle diese Elemente verleihen der Musik eine sehnsüchtige, leicht vergilbte Aura. Gerade wenn man es sich als Zuhörer in dieser Kulisse bequem gemacht hat, füge ich ein Element ein, das der Grund ist, warum dieses Beispiel in dem Abschnitt über Rhythmus und Metrum auftaucht. Ich habe mir den Spaß erlaubt, einen Plattenkratzer auszukomponieren (wahrscheinlich von der, dem Grammophon ähnlichen Trompetengeige inspiriert). Ein zweitaktiges Modell wird am Ende um die krumme Zahl von drei Sechzehnteln beschnitten (Vergl. Notenbeispiel f Takt 15, 16). Das resultierende rhythmische Gebilde  löst im Zuhörer durch sein unperiodisches Verhalten das Gefühl des Plattenkratzers aus. Wenn die Platte nach fünfmaliger Wiederholung dieses Modells wieder in die richtige Rille springt, macht sich Erleichterung breit. Man ist wieder in den üblichen rhythmischen Hörgewohnheiten zu Hause.

Notenbeispiel f: Liebesthema, Takte 14 – 21 (Die schwarze Trilogie, Leo Malet)

Alle diese Elemente verleihen der Musik eine sehnsüchtige, leicht vergilbte Aura. Gerade wenn man es sich als Zuhörer in dieser Kulisse bequem gemacht hat, füge ich ein Element ein, das der Grund ist, warum dieses Beispiel in dem Abschnitt über Rhythmus und Metrum auftaucht. Ich habe mir den Spaß erlaubt, einen Plattenkratzer auszukomponieren (wahrscheinlich von der, dem Grammophon ähnlichen Trompetengeige inspiriert). Ein zweitaktiges Modell wird am Ende um die krumme Zahl von drei Sechzehnteln beschnitten (Vergl. Notenbeispiel f Takt 15, 16). Das resultierende rhythmische Gebilde  löst im Zuhörer durch sein unperiodisches Verhalten das Gefühl des Plattenkratzers aus. Wenn die Platte nach fünfmaliger Wiederholung dieses Modells wieder in die richtige Rille springt, macht sich Erleichterung breit. Man ist wieder in den üblichen rhythmischen Hörgewohnheiten zu Hause.


Musik als Mittel zur Charakterisierung

In diesem Abschnitt möchte ich einmal exemplarisch vorstellen, wie ein musikalisches Thema den Helden einer Geschichte durch alle Lebenslagen zu begleiten vermag. Es handelt sich hier um Kommissar Brunetti aus den Venedigkrimis von Donna Leon. Er ist gerade im Begriff seinen fünften Fall „Nobiltá“ zu lösen.

Beispiel 16Brunetti´s Thema“ (Nobiltá, SWR 2000)

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Zur Konzeption dieser Musik  stellte ich mir die Frage, warum die Venedigkrimis von Frau Leon in Deutschland so erfolgreich sind. Vermutlich ist der malerische Handlungsort Venedig dafür verantwortlich. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass die meisten Deutschen Italien mit Urlaubsgefühlen und einer gewissen Leichtigkeit verbinden. Daher wollte ich Musik komponieren, die sofort gute Laune vermittelt. Jazzmusik und leichter Swing lagen hier nahe.

Doch welches Instrument soll das Thema spielen? Haben böse Menschen im sprichwörtlichen Sinne schon keine Lieder, so pfeifen sie mit Sicherheit noch viel seltener. Das Pfeifen wird schon immer mit guter Laune in Verbindung gebracht. Daher setzte ich für diese Musik einen Kunstpfeifer als Solisten ein. Gleichzeitig charakterisiert das Pfeifen den ermittelnden Kommissar als Einzelkämpfer. Das Idiom des pfeifenden Helden ist schon in zahlreichen Westernfilmen verwendet worden. Die Musik sollte Kommissar Brunetti durch alle Lebenslagen begleiten. Daher musste ein sehr kurzes aber griffiges Motiv gefunden werden. Ich habe mich für ein Dreitonmotiv entschieden.

Notenbeispiel g: Brunetti´s Thema (Nobiltá, Donna Leon)

Die Reduktion des Motivs auf drei Töne gewährleistet ein hohes Maß an Wiedererkennbarkeit. Eine kleine Sekunde abwärts wird gefolgt von einem tieferen Ton im Quartabstand. Da der Held sucht und den Dingen auf den Grund geht, wird dieser dritte Ton immer tiefer gesetzt. Im weiteren Stückverlauf werden diese drei Töne einer genaueren Untersuchung unterzogen, hin und her gewendet, mal von oben und mal von unten angepfiffen.

Die nun folgenden Musikbeispiele werden nicht mehr so eine genaue textliche Beschreibung erfahren, vielmehr soll hier der schnellere Abfolge der Stücke die musikalische Vielfalt zeigen, die sich selbst aus einem so kurzen Motiv erzeugen lässt.

Beispiel 17Brunetti ermittelt“ (Nobiltá, SWR 2000)

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Das Thema lässt sich auch als Bassfigur verwenden. In dreimaliger Wiederholung geht es den Dingen auf den Grund. Darüber erklingen Bläser im Blocksatz. Die nervöse, treibende Atmosphäre wird im Wesentlichen vom Schlagzeug geschaffen. Das Vibraphon hat Raum für eine freie Improvisation über die drei Töne des Brunetti-Themas. Hört man einmal genauer auf die Improvisation des Vibraphons, so fällt auf, wie robust das Dreitonmotiv ist. Es übersteht viele Wendungen und Stauchungen. Sogar Umkehrungen sind noch hörbar, da das Ohr sich lediglich an drei Töne erinnern muss.

Beispiel 18 Spannungsbrücke“ (Nobiltá, SWR 2000)

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Eine klassische Musikbrücke von zirka 20 Sekunden, wie sie aus den großen Hörspielkrimis der 50er und 60er Jahre ( zum Beispiel Paul Temple) bekannt ist. Das Dreitonmotiv stürzt sich quasi in die Tiefe, wo es dann unten im Bass gährt, um gegen Ende mit einer aufsteigenden Linie in den Schlussakkord zu münden. Alles wurde nur aus der Wiederholung des Dreitonmotivs mitsamt Umkehrung komponiert.

Beispiel 19Brunetti Rustikal“ (Nobiltá, SWR 2000)

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Es gibt sie noch, die freundlichen, italienischen Bauern, bei denen Brunetti auch mal ein Glas Landwein trinkt. Eine kleine soziologische Studie mittels Musik. Der rustikale Effekt kommt hier im wesentlichen durch die Instrumentierung zustande. Des weiteren spielt die Posaune eine Bassfigur, die ein vielfach verwendetes Element aus der Volksmusik ist: Den Pendelbass.


Beispiel 20Brunetti traurig“ (Nobiltá, SWR 2000)

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Hierbei verrät der Titel schon alles. Die traurige Wirkung wurde durch einen Wechsel des Tongeschlechts von Dur nach moll erzielt. Obendrein veränderte ich das Tempo. Es ist jetzt viel langsamer, wehmütiger. Das Thema ist nicht mehr mit einem Achtel-Auftakt versehen, sondern beginnt nun auf der vollen Taktzeit. Dadurch erscheint es nicht mehr so beweglich, ist nun, durch seine metrische Position, weicher und melancholischer geworden.

Notenbeispiel h: Brunetti traurig (Nobiltá, Donna Leon)

Mit den letzten Beispielen möchte ich diese kleine Werkstattbesichtigung beenden. Ich hoffe meine Ausführungen haben geholfen, die funktionale Musik aus dem unauffälligen Dasein, das sie führen muss (sonst würde sie ihren Zweck nicht erfüllen, unauffällig die Emotionen des Hörers zu lenken) in den Vordergrund zu rücken. Die Verbalisierung von Musik gleicht der Schwierigkeit den Duft eines Parfüms in Worte zu fassen. Man kann sich immer nur Analogien bedienen, um sie zu beschreiben. Dennoch ist es mir vielleicht gelungen einen kleinen Teil der Wirkungsweise von Musik auf unsere Emotionen darzustellen.

Musik von Henrik Albrecht ist in folgenden Hörspielen zu hören:

------------------------------------------Literatur Hörspiele------------------------------------------------

-" Bel Ami" , Guy de Maupassant, Der Hörverlag 2000 (ISBN 3-89584-874-3

-" Der Messias vom Stamme Efraim" , Moishe Kulbak, Headroom Sound Production 2001 (ISBN 3-934887-16-3)

-" Kaspar, Melchior und Balthasar" Michel Tournier Random House Audio (ISBN 3-89830-425-6)

-" Nana" , Emile Zola, Der Audio Verlag (ISBN 3-89813-202-1)

-" Baudolino" Umberto Eco, Der Hörverlag (ISBN 3-89584-972-3)

-" Die Forsyte Saga" , John Galsworthy, Der Hörverlag

-" Der gewissenlose Mörder Hasse Karlsson" , Henning Mankell, Der Audio Verlag

--------------------------------------------------Krimis-------------------------------------------------------

-" Die Säulen der Erde" , Ken Follett, Lübbe Audio 1999

-" Das Wittgensteinprogramm" , Philip Kerr, Der Hörverlag 1998 (ISBN 3-89584-498-5)

-" Nobiltá" , Donna Leon, Der Hörverlag 2000 (ISBN 3-89584-815-8)

-" Die Form des Wassers" , Andrea Camillieri, Lübbe Audio 2000 (ISBN 3-7857-1096-8)

-" Der Hund aus Terracotta" , Andrea Camillieri, Lübbe Audio 2001 (ISBN 3-7857-1096-8)

-" Der Dieb der süssen Dinge" Andrea Camillieri, Lübbe Audio 2001 (ISBN 3-7857-1147-6)

-" Die Stimme der Violine" Andrea Camillieri, Lübbe Audio 2002

-" Das Spiel des Patriarchen" Andrea Camillieri, Lübbe Audio 2003

-----------------------------------------------Kinderhörspiele-----------------------------------------------

-" Küken & Ferkel und die vergessene Geschichte" , Koos Meinderts, Headroom

Sound Production 2000 (ISBN 3-934887-02-3)

-" Teddy Langohr" , Ingrid Uebe, Headroom Sound Production 1999 (ISBN 3-934887-00-7)

-" Doktor Norbert Bär" , Paul Carson, Headroom Sound Production 2000 (ISBN 3-934887-04-X)

-" Mein Freund der Schlaf" , Martin Klein, Headroom Sound Production 2001 (ISBN 3-934887-12-0)

-" Sandmännchens Reise" , Ingrid Uebe, Headroom Sound Production 2001 (ISBN 3-934887-14-7)

-" Mein Freund Kalle" , Rainer Bublitz, Headroom Sound Production 2001 (ISBN 3-934887-09-0)

-" Jakob der Lügner" , Jurek Becker, Headroom Sound Production 2002 (ISBN 3-934887-25-2)

-" Das Geheimnis der verborgenen Insel" , Eva Ibbotson

-" Die Abenteuer des kleinen Ritters Robertino" Manfred Limmroth, Der Audio Verlag 2000 (ISBN 3-89813-128-9)

--------------------------------------------Neuerscheinungen-----------------------------------------------

-" Temutma" Rebecca Sloane, Der Audio Verlag

-" Die schwarze Trilogie" (oder " Angst im Bauch" , " Das Leben ist zum kotzen" ,

" Die Sonne scheint nicht für uns" ), Leo Malet, Der Audio Verlag

-" Die Verlobten" Alessandro Manzoni

---------------------------------------------------Musik pur--------------------------------------------------

-" Klezcetera" , Tango & Klezmer Quartett, Melisma Musik 1997

 

Neuigkeiten

Nun ist es raus! Der neue Kinderhörbuchpreis Beo für die beste Musik in einem Kinderhörspiel geht an das Orchesterhörspiel "A Christmas Carol" aus meiner Feder. Ich bin überglücklich, dass auch auf diesem Weg die viele Arbeit, die in dieser Partitur steckt belohnt wird. Danke!

Wer nicht bei der Aufführung meines neuesten Orchesterhörspiels "20.000 Meilen unter dem Meer" dabei sein konnte, hier gibt es einen Film von der Aufführung im Theaterhaus Stuttgart zu sehen.
 

Kritikerstimme

"Abrechts Komposition ist sehr farbig und abwechslungsreich, durchaus auch populär, aber nie platt oder beliebig. Er versteht es, auch fein abgestimmte Stimmun- gen und Bilder im Hörer zu er- zeugen...Albrecht ist ein großer Hörspaß für die ganze Familie gelungen."

-Neue Presse zu "A Christmas Carol"

 

"Die NDR- Radiophilharmonie und Vassilis Christopoulos haben hörbar großen Spaß an Albrechts plastisch instrumentierter Partitur"

-Hannoversche Allgemeine zu
"A Christmas Carol"


 

“Dieser Zauber tauchte beispiels- weise in "Alice im Wunderland" auf: Henrik Albrechts frische Version fasziniert als Muster musikalischen und mündlichen Erzählens.”

-FAZ zu "Alice im Wunderland"